Darf ich vorstellen: Der Zworda

Leseprobe vorgetragen am 4.03.2023 auf dem Bunten Abend des DFC in Klein Köris

Kopfkino auf dem Chorwochenende

Achtung, nicht jugendfrei, Eltern schützen Ihre Kinder

Auf dem Highway stand das eine oder andere Autowrack, meist mit zerschlagener Frontscheibe und offenen Türen. Bei einem Auto leuchtete die Warnlichtanlage, und es schien gerade erst abgestellt worden zu sein.

Ihr Auto hielt an und fragte:

„Der Van da vorne hat ein Problem, ich halte an, um Hilfe anzubieten.“

Sie blieben direkt neben dem Pannenauto stehen. Ein grüner Zworda, Baujahr 2066 oder 2067. Er hatte nicht einen Kratzer. Die Scheiben waren komplett getönt, unmöglich hineinzuschauen. Tom schaute auf Psion, Psion auf Tom. Warum fuhr ihr Auto nicht weiter, was sollte das? Solidarität unter Autopiloten?

Da öffnete sich die Fahrerfensterscheibe des grünen Zworda. Ganz langsam fuhr sie herunter und ließ den Blick ins Innere frei, in ein abgrundtiefes Schwarz.

Ihr Auto tat es dem anderen auch noch zum Überdruß gleich und ließ automatisch die Beifahrerfensterscheibe hinunter.

„Können wir nicht weiterfahren?“

Pi klang leicht ärgerlich, aber der Autopilot antworte ganz höflich, als habe er davon nichts gemerkt.

„Der Ehrenkodex der Autofahrer bietet Beistand an. Dieser Autofahrer wünscht Hilfe, also helfen wir.“

Tom krallte sich am Fensterrand fest und schielte neugierig nach drüben, nur etwa eine halben Meter trennten beide Autos. Aus dem anderen Wagen wehte kühle Luft hinüber, als befinde sich darin eine Eishöhle. Und es roch seltsam, fast wie in Toms Höhle.

„Das Auto hat Solarzellen und eine Klimaanlage, das erklärt die Kühle und das noch blinkende Warnlicht.“

Der Autopilot war auch noch vorlaut! Ihn hatte doch keiner gefragt!

„An Bord befindet sich ein 40jähriger Mann mit einer Wunde im Gesicht. So steht es in seinem ID. Er hat die Blutgruppe A und seine Lebenswerte sind momentan nicht entschlüsselbar.“

Pi wurde das jetzt zu dumm. Wie sollte in einem Auto, zwei Jahre nach dem Einschlag auf einem Highway stehen gelassen, noch jemand sitzen? Pi stieg aus und riß die Fahrertür der grünen Limousine auf. Mit dem Aufreißen der Tür fielen mehrere Knochen klappernd zu Boden. Eine ganze Ansammlung davon: Finger, Hand, Elle und Oberarm. Der Fahrer mußte sich in der Stunde seines Todes an dem Türgriff festgeklammert haben. Psion hatte den Arm jetzt abgerissen. Ins Wageninnere schien jetzt die Sonne und Pi wurde von einem Totenschädel angegrinst, in der linken Augenhöhle stach ihm ein Messer. Das waren also die Überbleibsel des Mannes mit der Wunde im Gesicht. Pi nahm einen der Armknochen vom Asphalt und drehte sich zu Tom, meinte aber den Autopiloten.

„Können wir jetzt weiter?“

„Achtung!“

Das war Tom. Pi hatte gute Reflexe und brachte den Ellenknochen als Waffe zum Einsatz. Eine, einer Python in Größe und Farbe ähnliche Schlange schnellte aus der offenen Tür und schnappte mit weit aufgerissenem Maul nach Psion M´Lean. Erst schlug Pi kräftig mit dem Knochen auf ihren Schädel, dann steckte er ihn ihr zwischen die Kiefer.

Pi sprang ins Auto und diesmal wartete der Autopilot nicht auf seinen Einsatzbefehl, sondern gab Gas und sauste davon.

„Der Autofahrer handelte unverantwortlich, Schlangen gehören in ein Terrarium und nicht in ein Auto. Wir sollten ihn anzeigen. Ich stelle eine Verbindung zur Polizei her.“

„Die Schlange war gewitzt, die hat das Auto als Falle genommen. Fast wäre ihre Rechnung aufgegangen. So groß wie sie ist, kommt sie doch mit wenig aus, ein oder zwei neugierige allzu hilfsbereite Menschen im Jahr und sie kommt über die Runden. Wirklich schlau!“

Tom war begeistert. Die neue Ära hatte viele Tiere sich weiterentwickeln lassen.

Sie fuhren weiter, ob es gelungen war, die Polizei zu verständigen, fragte niemand.

„Das Hetsons! Soll ich die Türen freigeben?“ meldete sich der Autopilot nach einer Weile des Schweigens zurück.

Er hatte dazu gelernt und fragte lieber erst nach.

Vor ihnen lag ein Krater, von einem Kaufhaus keine Spur. Zu Beginn war die Polizei noch hart gegen Plünderer vorgegangen. Manchmal war das so weit gegangen, ein Objekt, das gerade geplündert wurde, mitsamt seiner ungebetenen Gäste in die Luft zu jagen.

„Fahr bitte weiter, hier gibt es nichts mehr zu holen!“

Nummer zwei lag nur fünfhundert Meter weiter, bot aber ein anderes Bild. Die verkohlten Fensterrahmen, die eingeschlagenen Ladenscheiben, die Löcher im Dach. Hier stand nur noch die Fassade, drinnen war alles zerschlagen. Das Werk der Plünderer.

„Fehlanzeige, bitte weiterfahren.“

Das Mirandor war ihr nächstes Ziel. Es lag etwas abgelegen von der Hauptstraße in einer Seitengasse und wirkte auf den ersten Blick unversehrt. Die Ladentüren waren verschlossen, ein dickes Vorhängeschloss hing davor. Die Fenster waren verriegelt. In Zeiten des Hungers waren Kinderartikel nicht so gefragt und Plünderer aus Leidenschaft waren woanders auf ihre Kosten gekommen. Vielleicht war das der Grund für die Unversehrheit des Mirandor. Für Tom war es ein Leichtes, durch die Regenrinne aufs Dach und von dort über einen Lüftungsschacht ins Innere zu gelangen. Es mußte einen Notausgang geben, hatte ihm ein Bekannter, eine ziemlich erfolgreiche Ratte, mal gesteckt:  „Die Menschen haben in ihren Warenhäusern immer neben den Haupteingängen Notausgänge miteingeplant. Du mußt sie finden, meist lassen sie sich über eine Taste an der Wand oder einen speziellen Hebel öffnen.“

Pi war gespannt. Er stand jetzt hinten im Hof des Kaufhauses vor einer schweren Metalltür. Hier wollte die Echse herauskommen. Pi mußte schmunzeln. So recht konnte er noch nicht glauben, daß jetzt sein Schicksal von der Geschicklichkeit einer Echse abhängen sollte. Denn so sah es aus. Psion mußte sich beeilen, aber ohne Kinderwagen brauchte er gar nicht nachhause zurückkehren. Er war schon bald den zweiten Tag weg, es wurde dunkel, und er würde erst morgen heimkehren können. Da ging die Tür auf, und Tom stand auf der Schwelle.

„Komm rein, es gibt welche passend zu meinem Halstuch, aber sie haben auch andere Farben und Muster!“

Psion wurde schnell fündig, ein Modell für Zwillinge mit großen, geländetauglichen Rädern und einem massiven Fahrwerk. Leicht konnte er sich vergewissern, daß das eines der teuersten Modelle war, denn alle trugen ein Preisschild angebunden.

„Den nehmen wir!“ dachte er laut, griff sich Tom und ließ ihn Probefahren. Zusammen hatten sie jede Menge Spaß, tobten durch die Abteilungen und hörten erst auf, als sie ein Hupen hörten. Psion schaute aus dem Fenster des zweiten Stocks, in dem sie sich befanden, nach unten auf die Straße. Ihr Wagen stand noch vor der Tür, gut so. Hatte er gehupt? Hatte er, denn er tat es noch einmal. Ein ungeduldiger Autopilot. Na so etwas!

Unten vor dem Auto war Pi etwas ratlos. Sollte er den Kinderwagen im Kofferraum verstauen oder auf der Rückbank? Erst einmal zusammenfalten. Jetzt war der Wagen handlicher. Leicht war er auch, Eine gute Wahl. Wie nur bekam er den Kofferraum auf?

„Hm, Autopilot, kannst du bitte den Kofferraum öffnen?“

„Anfrage positiv, öffne Kofferraum. Und willkommen zurück, habe mir schon Sorgen gemacht.“

Der Autopilot, der sich Sorgen machte, wirklich nett. Psion M´Lean packte den zusammengeklappten Kinderwagen und wollte ihn gerade im Auto verstauen, als Tom schrie. Oje, er hatte ihn im Wagen vergessen und mit zusammengeklappt. Aber das war es nicht, was die Echse störte. Es war die Geruchswolke, die ihm aus dem Kofferraum entgegenströmte und der Anblick. Pi hätte fast vor Schreck den Wagen fallenlassen.

„Kommando zurück, Kofferraum wieder schließen!“

Im Auto hinten lag eine Leiche, stark verwest, Alter, Geschlecht schlecht feststellbar. Psion wagte es nicht, den Autopiloten danach zu fragen und der blieb erfreulicherweise stumm diesmal.

Mittlerweile war es nahezu dunkel auf der Straße. Schatten huschten zwischen den Bäumen umher und Pi mußte an die Warnungen von Luka denken, die Geister betreffend, die die Stadt unsicher machen sollten. Ins Auto zurück, in dem eine Leiche lagerte oder zu Fuß weiter? Auf dem Hinweg hatte sie die Leiche nicht gestört. Also nahm sich Psion ein Herz und legte den Kinderwagen eben auf den Rücksitz.

„Fahrtziel?“

„Das Meer!

„Kürzester Weg?“

„Bitte auf den Hauptstraßen bleiben, nicht querfeldein, wenn es geht.“

Und der Wagen setzte sich in Bewegung, gerade noch rechtzeitig, bevor eines der Geisterwesen sich an der Tür zu schaffen machen konnte.

Psion schaute direkt in die glasigen Augen eines schwarzen Gesichtes, das sich an die Scheibe preßte und ihm die Zunge zeigte. Ob Mensch, Tier oder Geist, schwer zu sagen. Es hatte große Hände und klopfte damit gegen das Blech des Autos, das zwar fuhr, aber der Beschilderung gemäß im Schritttempo.

„Bitte fahr schneller!“

„Wir befinden uns in einer verkehrsberuhigten Zone.“

„Ist mir egal, gib Gas, wir werden verfolgt.“

„Ist Gefahr in Verzug?“

„Ja, wieso?“

„Bei Gefahr für Leib und Leben der Insassen darf ein Autopilot auch Verkehrsregeln zu Gunsten des Autofahrers beugen.“

„Prima, das ist jetzt so eine Situation …“

Der Autopilot legte los und sie bretterten aus der Stadt hinaus, vorbei an verwirrten Geisterwesen, Bären und wilden Hunden, die die Straße zu bevölkern begannen.

Nach einer Weile der Stille – Tom hatte sich inzwischen auf dem Beifahrerplatz gemütlich eingerollt und hielt wie immer seinen Schwanz fest umklammert, daß ihm ihn bloß keiner stahl – meldete sich der Autopilot zurück.

„Ihr habt sicher Hunger und Durst, da ihr doch Wesen aus Fleisch und Blut seid. Ich kann euch zu einer Herberge führen. Ja, ja, ich weiß, ich hab das mittlerweile gelernt, die Karten, die mir vorliegen und das enthaltene Infomaterial ist nicht auf dem neusten Stand, ich bekommen einfach keine updates hochgeladen, aber ich verfüge über mehrere Sensoren, die die Wissenslücke schließen helfen. Ich habe eine Herberge in der Nähe ausfindig gemacht, die noch geöffnet ist. Dort gibt es eindeutig Leben. Also können sie euch auch etwas vorsetzen.“ Jede Widerrede war zwecklos. Die Autotüren waren fest verschlossen. Pi sah seinen Plan schwinden, noch kurz vor Mitternacht zuhause anzukommen. Wer weiß, vielleicht würde er jetzt gar nicht mehr zurückkommen. Eine Herberge mit Personal? In solchen Zeiten? Unmöglich! Entweder lebten dort irgendwelche wilden Tiere oder Zombies, die es auf ihn und Tom abgesehen haben würden. Einige Überlebende der Katastrophe hatten sich auf Drogen verstiegen, die es jetzt im Überfluß gab. Früher oder später gingen sie dabei drauf, aber wen kümmerte das? Vorher nahmen sie noch genug andere mit in den Tod. Es gab auch Kannibalen und solche, die es werden wollten. Pi trat der Angstschweiß auf die Stirn, als der Zworda an Geschwindigkeit verlor und eine Auffahrt hineinsteuerte und über feinen Kies knirschte. Sie waren da: „Zetas Motel“.

Mit dieser Punktlandung endete die Performance aus Lesen, Vortrag und musikalischer Untermalung am 4.03.2023. Das Foto habe ich dankenswerterweise von Walter Weimert erhalten.